Lesen ist Leben !
LESEPROBE 1
Kapitel 1: Ein großes Geheimnis
»Kannst du den Mund halten, wenn es wichtig ist?«
Die Jungen standen auf einer schmalen Holzbrücke in der Schlucht des Dittelbachs und schauten auf die schäumende Flut, die über zwei Stufen in ein Becken hinunterstürzte. Vom linken Rand kam in einer Rinne weiteres Wasser herab, das sich unten mit dem Bach vereinigte und dann hinter einem Felsen verschwand.
Micha Bestmann, vierzehn Jahre alt, mit dunklem Haar und klugen Augen, sah seinen Begleiter prüfend an.
»Warum fragst du?« Max von Denker blickte erstaunt auf. Obgleich einige Monate jünger, wirkte er, groß, blond und stämmig, weit erwachsener als sein Freund. Er hätte glatt sein großer Bruder sein können.
Sie waren mit ihren Fahrrädern bis zum Waldrand gefahren und dann zu Fuß in die Schlucht hinabgestiegen. Micha hatte sich über das Ziel ihres Ausflugs in Schweigen gehüllt und mit geheimnisvollen Andeutungen begnügt. Zunächst aber hatten sie eine seltsame Begegnung.
Auf der Holzbrücke stand ein kleiner Mann, der trotz des sonnigen Wetters einen schwarzen Regenmantel anhatte und eine Baskenmütze trug. Er starrte auf das Wasser hinab, als könne er dadurch die Rätsel der Welt lösen.
»Das ist was für Lebensmüde«, äußerte Max, als sie ebenfalls Halt machten und hinuntersahen.
Micha nickte. Er war aus dem Ort und wusste Bescheid. »Vor kurzem hat ́s hier wirklich an Unfall geben«, sagte er im Dialekt. »A Holzknecht ist in den Bach g ́fallen. Das Wasser hat ihn die Klippen - abig ́rissen. Das war ́s dann. Er ist weiter unten tot g ́funden worden.«
Der Mann neben ihnen sah auf und kämpfte mit sich, ob er sich einmischen sollte. Schließlich äußerte er leise, so als spräche er mit sich selbst: »Ich habe das anders gehört.« Mehr wollte er wohl nicht sagen, denn er schaute wieder aufs Wasser. Aber irgendwas drängte ihn, doch noch hinzuzufügen: »In der Schlucht soll es nicht geheuer sein.«
Die Jungen sahen ihn erstaunt an. Als er erkannte, dass er eine Erklärung schuldig war, fuhr er stockend fort: »Man erzählt von ... seltsamen Geisterprozessionen, ... die einmal im Monat nachts bachaufwärts schreiten, ... wo sie um Mitternacht ... an einem geheimen Ort ... unheilvolle Rituale vollziehen. Der Holzknecht ist mit dem Tode bestraft worden, ... weil er das Treiben belauscht hat.«
»Dummes Gerede und Aberglaube.« Micha lachte verächtlich. »Die Leute können nicht anders, als hinter jedem Unfall ein übernatürliches Ereignis zu vermuten.«
»Ich wollte, es wäre so«, erwiderte der Kleine. »Der Holzknecht ist nicht das einzige Opfer geblieben. In der Schlottermühle hinter uns ist ein Kellner verschwunden, der ebenfalls dem Spuk nachgehen wollte.«
»Bestimmte Vorfälle häufen sich eben«, sagte Micha, »besonders wenn sie die gleiche Ursache haben. Hier offenbar die Dunkelheit.«
»Das habe ich auch zuerst gedacht.« Der Fremde musterte die Jungen unruhig, als sei er sich nicht sicher, wie viel er noch erzählen solle. Schließlich sprach er zögernd weiter: »Ich wollte die Gerüchte überprüfen und ... hätte beinahe das gleiche Schicksal erlitten.«
»Aber Sie haben`s überlebt«, äußerte Micha gleichmütig. Man sah ihm an, dass er die Sache nicht ernst nahm. Max dagegen wollte es genauer wissen. »Was ist passiert?«, erkundigte er sich neugierig.
»Es ist neun Tage her, es war Sabbat, die Nacht des Hexenspuks«, berichtete der Kleine. »Da waren gegen Mitternacht Lichter in der Klamm hinter der Mühle. Als ich ihnen nachgegangen bin, hat mich eine Gestalt mit rotglühenden Augen angesprungen. So groß und breit wie ein Kalb. Ich bin rücklings in den Bach gestürzt. Zum Glück haben mich Sträucher aufgefangen, sodass ich mit Abschürfungen und Prellungen davongekommen bin. Nicht anders wird es dem armen Holzknecht ergangen sein; nur dass er nicht so einen Mordsdusel hatte.«
»Was war das für ein Tier?«, fragte Max neugierig.
Der Kleine wiegte bedächtig den Kopf. »Keiner aus der Umgebung will darüber sprechen«, erklärte er. »Sie fürchten wohl, dass das Unglück bringt. Ich habe aber herausgebracht, dass es ein magischer Hund ist, der die Versammlung der Geister vor Lauschern schützt. Er taucht ebenso unvermittelt aus dem Nichts auf, wie er plötzlich wieder verschwindet. Wen er berührt, ist verloren. Ein böser Fluch führt dann früher oder später zum Abgang!«
Der Fremde brach ab. Man merkte, dass ihm die Angst in den Knochen steckte. Als er die ungläubigen Gesichter der Jungen sah, rief er heftig: »Ich verstehe, dass ihr Zweifel habt ... Ich selbst würde es allzu gern als Aberglauben abtun ... Aber ich bin der lebende Beweis dafür, dass es nicht so ist. Jedes Mal, wenn ich mich in die Schlucht hineinwage, habe ich ein Unglück. Dabei werden die Unfälle immer gefährlicher: Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis ich mich zu Tode stürze.«
In der Tat hatte der Kleine blaue Flecke sowie offene und verschorfte Wunden an Gesicht und Händen. Er genoss das Mitgefühl, das ihm entgegengebracht wurde, und erklärte dann: »Jetzt muss ich mich hinlegen, da ich mir die ganze Nacht um die Ohren geschlagen habe.«
»Haben Sie noch was entdeckt?«, fragte Max, der gern mehr über die geheimnisvollen Umtriebe erfahren hätte.
»Nein, es war alles ruhig ... Ich habe nicht mal einen Unfall erlitten.« Der Kleine schien fast enttäuscht darüber.
»Sehen Sie!«, sagte Micha. »Es geht also auch ohne.«
Der Fremde verabschiedete sich und wandte sich zum Gehen. Dabei stolperte er über eine Holzschwelle und fiel auf das altersschwache Geländer, das nachgab und sich nach unten neigte. Er wäre ins Wasser gestürzt, wenn nicht die Jungen zugegriffen hätten. »So, jetzt habt ihr ́s selber gesehen!«, rief er fast erfreut. »Es gibt einen Fluch und er wirkt immer noch.« Dann entfernte er sich unbeholfen nach einigen Worten des Dankes.
»Hey, das war ein merkwürdiger Vogel«, lachte Max und bemühte sich, das unheimliche Gefühl abzuschütteln, das ihn bei der Schilderung des Kleinen überfallen hatte.
»Der Mann ist ein Beispiel dafür, wie Aberglaube schadet«, äußerte Micha. »Er ist wohl an den großen Wolfshund geraten, der die Mühle bewacht. Das Tier war natürlich nicht einverstanden, dass sich nachts dort jemand herumtrieb. Es war also ein ganz normaler Vorgang. Aber, ... weil der Kleine an Unglück glaubt, hat er Unglück und wird es weiterhin haben, solange er so denkt. Hier ist nicht der Fluch die Ursache, sondern der Glaube daran ... Wir müssen also unser Vorhaben nicht aufgeben!« Micha setzte das in einem Ton hinzu, als wolle er einen Einwand widerlegen.
Max horchte auf. Das hörte sich fast so an, als wenn die ›Junior-Detektive‹, wie er und Micha scherzhaft genannt wurden, bald wieder im Geschäft wären. Er hatte im letzten Frühjahr Micha geholfen, eine Bande von Trickdieben zu überführen und das Rätsel um ein geheimnisvolles Ufo zu lösen. Damit hatte eine Freundschaft begonnen, die seine Familie und ihn in den Schulferien immer wieder nach St. Wolfgang führte. Und regelmäßig konnte sein Freund mit einem neuen Fall aufwarten, der beide an ihre Grenzen brachte. Aber was wäre das Leben ohne Risiko und Abenteuer! Waren die Vorkommnisse in der Schlucht der Grund, weshalb sie hier waren?
Mitten in diese Gedanken kam unvermittelt Michas Frage, ob Max den Mund halten könne. Als er sich nach dem Grund erkundigte, sagte Micha: »Das wirst du gleich sehen. Du musst mir allerdings dein Ehrenwort geben, dass du nicht darüber redest.«
Max fand das wieder einmal reichlich übertrieben. »Was soll das?«, fragte er. »Du weißt, dass auf mich Verlass ist.« Als Micha ihn schweigend ansah, setzte er noch scherzhaft hinzu: »Meine Lippen sind von nun an versiegelt. Ich werde sie nur noch zu den Mahlzeiten öffnen.«
Micha schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich will deine Hand darauf. Es geht um was Wichtiges.«
Widerwillig gehorchte Max. Er ließ sich ungern herumkommandieren. Aber seine Neugier war größer.
»Gut, dann schaun wir, dass wir vorankommen!« Micha drehte sich um und wandte sich zum Gehen.
»Wohin willst du? Doch nicht in die Schlucht hinein?!«
»Wie hast du ́s erraten?«, spottete Micha. »Aber, keine Panik ... Wie du gehört hast, kommen die Geister nur einmal im Monat und das des Nachts!«
LESEPROBE 2 Kapitel 8: Nachtwache
Die Schlottermühle lag erleuchtet unter ihnen und warf einen Lichtschimmer in die stockfinstere Nacht. War die Waldschlucht schon am Tage düster und bedrückend, so wirkte sie jetzt schauerlich und bedrohlich.
In der Finsternis hatten sie den schmaler Pfad kaum gefunden, der von den Gleisen der Schafbergbahn hinunter zur Mühle führt. Taschenlampen durften sie ja nicht benutzen. Hand in Hand tasteten sie sich vor, stolperten über Steine und Baumwurzeln. Feucht, zerkratzt und zerschunden erreichten sie endlich ihren Beobachtungsposten auf der gegenüber liegenden Bachseite. Micha hatte diesen Ort gewählt, weil sie von hier aus sowohl das Gebäude als auch die zur Höhle führende Schlucht überblicken konnten.
Nun saßen sie hier, eine Ewigkeit schon, wie es schien, frierend und entmutigt. Max war froh, dass er nicht allein war. Das nahm etwas von der Beklommenheit, die als schmerzhafter Druck auf der Brust saß. Micha ging mit der Situation gelassener um. Er hatte zwar auch, »das ist ja entrisch«, gemurmelt, was so viel wie unheimlich hieß, dann aber doch eine Ruhe und Zuversicht an den Tag gelegt, die nach den Umständen nicht gerechtfertigt war.
Als es hinter ihnen im Gebüsch knackte, schreckte Max zusammen. Wer oder was nahte da? Er konnte nicht leugnen, dass ihn die Finsternis mit Angst erfüllte, zumal ihm die Geistergeschichten des kleinen Mannes noch im Kopf herumspukten. Auch seine körperliche Verfassung ließ zu wünschen übrig. Er war nass, fror und hatte vom langen Warten steife Glieder. Er verfluchte, dass er sich bei dem Wetter überhaupt auf die Sache eingelassen hatte. Dabei hätte alles ganz anders sein sollen.
»Die Nacht ist für eine Beobachtung optimal«, hatte Micha gesagt, nachdem er Mondtabellen und den Wetterbericht studiert hatte. »Wir haben Vollmond! Da ist es taghell. Und es bleibt warm und trocken.« Das war alles ein frommer Wunsch geblieben. Der Mond hatte sich hinter schwarzen Wolken versteckt, sodass man die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Nur ab und zu rissen sie auf und gaben eine Vorstellung davon, wie hell es eigentlich hätte sein können. Zudem war es kalt geworden. Von Zeit zu Zeit kam von oben ein leichter Schauer. Er durchdrang die Blätter des Waldes kaum, erzeugte aber eine Feuchtigkeit, die durch die Ritzen der Kleidung kroch.
An der Mühle hatte sich vorerst nichts anderes getan, als dass ein Licht nach dem anderen erlosch, bis nur noch die Außenbeleuchtung brannte. Dass sich nichts ereignet hatte, stimmte nicht ganz. Gleich nachdem sie ihren Posten bezogen hatten, war ein Bekannter aufgetaucht. Auf der anderen Uferseite war der Geologe mit seinem Rucksack zur Schlottermühle hinabgestiegen und darin verschwunden. »Was will der hier?«, fragte Max. »Abendessen«, vermutete Micha. »Wir werden sehen, wann er das Gebäude wieder verlässt.« Das war dann aber nicht mehr geschehen.
Max sah auf die Armbanduhr und musste feststellen, dass es bereits halb zwei Uhr war. Langsam begannen die Glieder zu schmerzen und die Kälte drang immer tiefer in den Körper ein. Um sich zu wärmen, stand er auf und schlug die Arme um den Leib. Er wollte gerade vorschlagen, die Sache aufzugeben, als Micha ihn herunterzog und zischte: »Kusch, da kommt jemand den Weg herab!« Max ging sofort in Deckung. In der Tat waren vorsichtige Schritte zu hören, die von oben langsam näherkamen. Der Unbekannte versuchte ebenfalls, den steilen Pfad ohne Licht zu bewältigen. Das ging nicht ohne Flüche und Schmerzenslaute ab.
Unmittelbar an dem Gebüsch, hinter dem die Beobachter steckten, machte der Weg eine Biegung nach links. Der Hang fiel hier steil in den Bach ab. Im schwachen Licht, das die Außenbeleuchtung der Mühle heraufwarf, war sie kaum zu sehen. Der Ankömmling kannte oder erkannte die Kehre nicht. Vielleicht stolperte er auch nur an der falschen Stelle. Auf jeden Fall ertönte ein Schrei und Zweige brachen.
»Pfloatsch! Jetzt haben wir ein Problem!«, sagte Micha alarmiert. »Wenn wir nicht helfen, wird er uns die Tour vermasseln.« Mit zwei Sprüngen waren sie auf dem Weg. Hilferufe zeigten, wo sie suchen mussten. Der Passant war durch das Gesträuch gebrochen, das den Felsabsturz säumte, und hing nun, mit den Füßen im Gestrüpp verfangen, hilflos über dem Abgrund. Er war gerade dazu übergegangen, alle Schutzheiligen laut um Beistand zu bitten.
»Still!«, flüsterte Micha. »Wir holen dich raus, wenn du nicht die ganze Nachbarschaft aufweckst.«
Der Verunglückte verstummte und antwortete dann in gedämpfterem Tonfall, doch immer noch voller Panik: »Aber schnell! ... Mich halten nur ein paar Zweige!«
Micha kroch mit dem Kopf voran in das Gestrüpp. Als er den Unglücksraben erreicht hatte, packte er ihn an den Fußgelenken. Dann gab er Max ein Zeichen, der die beiden vorsichtig Zentimeter um Zentimeter zurückzog. Das ging nicht ohne Schrammen ab. »Halt die Pappen!«, schimpfte Micha halblaut, als jetzt wieder lautes Stöhnen ertönte. »Sonst lass ich los!« Das wirkte und das Jammern verstummte. Endlich war es so weit, dass Micha sich hinknien und den Rest allein erledigen konnte.
»Das war Hilfe in letzter Sekunde!«, flüsterte der Gerettete dankbar. Es war zu dunkel, um auszumachen, wer es war. »Wie kann ich mich erkenntlich zeigen?«
»Indem du weitergehst und so tust, als hättest du dich selbst aus der Patsche befreit«, erwiderte Micha. »Schimpfe und lamentiere halblaut weiter, damit man merkt, dass du dich entfernst ... Und bleib dann weg und gibt Ruhe.« Der Pechvogel zögerte noch. Erst als Micha hinzufügte: »Nun schleich dich!«, rappelte er sich auf und hinkte den Weg hinab, wo er kurze Zeit später die Brücke passierte. Im Licht der Hauslaterne erkannten sie ihn. Es war der kleine Mann mit Regenmantel und Baskenmütze, den sie am Montag kennen gelernt hatten.
»Es scheint tatsächlich ein Fluch auf ihm zu liegen«, lachte Max. »Jedes Mal, wenn wir ihn sehen, hat er einen Unfall ... Und es wird schlimmer.«
»Ich frage mich, was er bei diesem Wetter des Nachts in der Schlucht will«, erwiderte Micha. »Er sollte von solchen Abenteuern langsam die Nase voll haben.«
»Hoffentlich hat er uns nicht alles verdorben«, bemerkte Max. Das war nicht ehrlich. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man die Sache sofort abgebrochen.
»Das werden wir gleich sehen«, gab Micha zurück. »Ich schlage vor, wir warten noch eine halbe Stunde.«
Max nickte missmutig. Micha hatte Recht. Sie hatten ihre Anwesenheit wohl nicht verraten. Der Lärm hatte sich auf ein Mindestmaß beschränkt. Wenn Ruhe eingetreten war, würde sich dort unten vielleicht doch noch etwas tun.
Dann ging alles überraschend schnell. Als Micha ihn am Ärmel zupfte, sah Max es auch: Eine dunkle Gestalt kam mit einem Sack auf der Schulter um die Schlottermühle herum. Sie war in einen langen Mantel gehüllt und hatte einen breiten Hut tief ins Gesicht gezogen. Es schien ein Mann zu sein. Mehr war im trüben Schein der Hauslaterne nicht zu erkennen. Von der Größe her konnten es der Wirt, Zigahn oder auch der Geologe sein.
»Er kommt herauf«, flüsterte Micha, »wir postieren uns besser etwas höher, um zu sehen, wo er hingeht.« Die Jungen huschten den Weg hinauf, durch die Kehre von der Einsicht von unten geschützt. Oben am Bahndamm, wo der Pfad ein Stück an den Gleisen entlangführt, versteckten sie sich im Gebüsch. Zum Glück drang gerade das Mondlicht durch die Wolken, sodass die Beobachtung erleichtert wurde. Es dauerte nicht lange, bis der Vermummte ankam. Er schien jemanden zu erwarten; denn er machte ebenfalls am Bahnkörper Halt, setzte seinen Sack ab und sah prüfend in die Runde. Dann ließ er eine Taschenlampe aufblinken und schaute auf die Armbanduhr. Kurz darauf wurde in der Ferne das leise Dröhnen von Rädern hörbar.
In der Dunkelheit leuchteten plötzlich zwei gelbe Augen auf, die einen milchigen Schein auf die Schienen warfen, während die Maschine ihre Geschwindigkeit drosselte. »Eine Draisine«, erklärte Micha leise. »Man braucht sie für Reparaturarbeiten.« Als das Gefährt das Versteck der Jungen passiert hatte, hielt es an. Ein Lichtkegel suchte den Schienenrand ab und eine Stimme rief halblaut in gebrochenem Deutsch: »Miron, ... du da?«
Der Vermummte trat an das Gleis heran. »Lösch das Licht. Wir können keine Zuschauer gebrauchen!«
»Kein Angst! ... Niemand da in Nacht schwarzer!«, lautete die unbekümmerte Antwort.
»Ich weiß nicht! ... Vor kurzem kam ein Passant entlang. Außerdem war es mir so, als hätte ich zwei Schatten den Weg hinaufhuschen sehen. Mach besser das Licht aus.«
Darauf verlöschten die Lampen des Fahrzeugs schlagartig. »Dann wickeln ab wir Geschäft schnell«, sagte der Ausländer auf der Draisine beunruhigt und wesentlich leiser. »Wo ist Ware?«
»Hier!« Der Vermummte fasste in den Sack.
In diesem Moment ging ein Scheinwerfer an und eine Lautsprecherstimme rief: »Hier spricht die Zollinspektion! Lassen Sie den Sack fallen und nehmen Sie die Hände hoch! Vorsicht: Es wird scharf geschossen!«
Die Männer standen einen Moment wie versteinert. Dann warf der Ausländer auf der Draisine den Motor an und fuhr mit voller Beschleunigung wieder rückwärts den Berg hinauf. Gleichzeitig sahen die Jungen dort, wo der Komplize mit Hut stand, einen Mündungsblitz und hörten ein Krachen. Micha gelang es noch, Max von den Beinen zu reißen. Der Kerl feuerte die Pistole noch ein zweites Mal ab, sprang dann mit einem Satz in den Wald und brach bergabwärts - mehr rutschend als laufend - durch das Unterholz.
»Das war knapp«, sagte Max, als er sich vom Boden aufraffte. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass die Bande gleich schießen wird. Aber wo bleibt die Zollinspektion?«
Micha lachte: »Die hat sich durch mich vertreten lassen.«
»Durch dich vertreten lassen?!«, wiederholte Max verblüfft. »Heißt das, DU hast gerufen? ... Aber der Lautsprecher und der Scheinwerfer!«
»Ich hatte mich für alle Fälle damit ausgerüstet. Du hast dich ja über meinen großen Rucksack gewundert.«
Micha öffnete dann den sichergestellten Sack. »Sieh da!«, sagte er nach einer Untersuchung ... »Zigaretten aus Osteuropa ohne Banderole! Da haben wir Entführer gesucht und Schmuggler gefunden. Aber vielleicht hängt es zusammen.«
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Leseprobe 3 KAPITEL 19 Seite 121
Die Tür knarrte bedrohlich. Der Junge betrat einen dunklen Raum. Es mochte früher einmal ein Kerker gewesen sein, jetzt diente er, zum Teufel!, anderen Zwecken. In Reihen hintereinander und übereinander gestapelt, standen hölzerne Särge, die fast alles ausfüllten. Sie hatten unterschiedliche Größen. Für Männer, Frauen und Kinder. Und sie waren gefüllt. Denn sie wurden mit einer Leinenabdeckung geschützt. »Mein Gott!«, flüsterte Max verstört. »Wenn Dota hier ist, dann jedenfalls nicht mehr lebendig.« Er starrte auf die Holzkisten, die, vom schwankenden Licht der Laterne aus der Dunkelheit gerissen, mit tausend Schatten zum Leben erwachten, als wollten ihre Bewohner der Behausung entfliehen. Ihm fehlte die Vorstellungskraft, um das zu begreifen. Oder richtiger gesagt: Seine Fantasie überschlug sich und produzierte Erklärung um Erklärung, denen sich der Geist zu folgen weigerte.
Der erste Gedanke war, dass der Satanskult also doch seine blutige Ernte gehalten hatte. Es waren mehr als dreißig Särge. Handelte es sich um Menschen, die aus Osteuropa kamen? Die eine bessere Zukunft erhofft hatten und jetzt als Leichen in billigen Särgen lagen, nachdem man sie beraubt und ermordet hatte? Der Junge schüttelte sich entsetzt ... Aber wer sagte, dass es überhaupt Tote waren, die die Schreine bargen? Reichten die Verbindungen in diesem Haus nicht bis nach Rumänien, dem Land der Vampire und Untoten?! Hatten die hier Zuflucht gefunden? Auf der Suche nach Opfern, an denen sie ihren Hunger nach frischem Blut stillen konnten? War das der Geisterspuk, der seit einiger Zeit die Schlucht unsicher machte? Und was hatte es mit dem leeren Sarg auf sich, der unmittelbar vor seinen Füßen stand? Der Sargdeckel war geöffnet und das Leichentuch schon ausgebreitet ... Für wen ...?
Oh, nein! ... Max überlief es siedend heiß und das Herz setzte aus. War das sein Sarg? Sollte er das nächste Opfer sein? Einen Moment stand er wie erstarrt. Dann riss er sich zusammen. Er durfte nicht auf die Stimmen seiner Angst hören. Der leere Sarg konnte nicht für ihn bestimmt sein. Keiner wusste ja, dass er kommen würde! Und Geister und Vampire gab es nur in Schauergeschichten und Märchen, nicht aber in Wirklichkeit.
Max schlug mit der rechten Hand, in der er die Laterne hielt, ein Kreuz. Plötzlich schoss ein riesiger Schatten die Decke empor. Das brachte das Fass zum Überlaufen: »NEIN!«, schrie er und machte einen wilden Satz zurück. Der Schatten aber sprang mit und verharrte drohend über seinem Haupt. »Lauf, was du kannst«, rief die innere Stimme. »Das ist die letzte Chance!« Max war dabei, den Raum fluchtartig zu verlassen.
Aber er wusste, dass er dies nicht tun durfte. War er erst einmal im Laufen, dann würde er nicht früher einhalten, bis er nicht nur das Gewölbe, sondern auch das Haus, die Schlucht und den Berg für immer verlassen hatte. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Panik, die ihn zu überwältigen drohte. »Geister gibt es nicht!«, schrie er, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Entsetzt hörte er, wie es im Raum zurückdonnerte: »... dreister Wicht!« Der Junge erschrak. »Es ist nur der Widerhall!«, rief er zornig. »... dein tiefer Fall!«, kam schaurig die Antwort. Der Druck auf der Brust verstärkte sich und das Atmen wurde mühsam. »Ihr bringt mich nicht um meinen Mut!«, brachte er noch heraus. »...nur dein Blut!«, flüsterte es drohend zurück.
Sein Herz pochte wie wild und machte große Sprünge. Aber der Verstand arbeitete noch. Er wusste, was zu tun war. Er holte den Arm mit der Laterne hinter seinem Körper hervor und sagte nichts mehr, worauf der Schattenspuk endete und es still wurde.
Jetzt musste er sich Gewissheit darüber verschaffen, ob Donata in einem der Särge lag. »Überzeug dich, womit du es zu tun hast«, befahl er sich und setzte heimlich hinzu: »Weglaufen kann ich immer noch.« Das war ein Kompromiss. Max beugte sich zu der kleinen Holzkiste, die gleich neben dem offenen Totenschrein auf dem Boden stand. Ein Kindersarg!, schoss es ihm durch den Kopf. In seiner Vorstellung sah er ein blondes Mädchen in einem weißen Kleid darin liegen, einen goldenen Stirnreif um den Kopf. Ihre offenen Augen starrten ihn an, als wollten sie sagen: »Nun ist es zu spät. Warum bist du nicht eher gekommen?!«
»Lieber Gott«, betete der Junge, »mach, dass es nicht Donata ist!« Er zwang sich dazu, die Leinenhülle zu entfernen. Eine aus rohen Brettern gezimmerte Kiste kam zum Vorschein. War das Verwesungsgeruch, der in seine Nase drang?! Oder nur Moder und Fäulnis in dem nasskalten schlecht belüfteten Raum? Widerwillig ergriff er ein am Boden liegendes Brecheisen und stemmte den Deckel auf. Er schloss die Augen und bereitete sich innerlich auf das vor, was er gleich sehen würde. Eine Weile stand er so unbeweglich da. Als er sich endlich der Wirklichkeit stellte, blickte er auf ein Leichentuch, das eine kleine Gestalt bedeckte. Auf das Leinen schien sich die Erstarrung des toten Körpers übertragen zu haben. Es war ein Symbol für die ewige Ruhe, die das tote Kind ergriffen hatte.
»Ruhe! ... Aber was war das ...? Das gab es nicht!« Er glaubte an eine Sinnestäuschung. Dann sah er es nochmals und war sich sicher, dass er sich nicht irrte: Das weiße Tuch fing an, sich zu bewegen, weil unter ihm etwas zum Leben erwachte und den Sarg verlassen wollte.
LESEPROBE 4 Kapitel 11: Unerwünschter Besuch
»Das Licht im Turm brennt! Da ist was faul, nein oberfaul, fauler geht es nicht mehr! Es stinkt zum Himmel!«
Max hatte Micha versprechen müssen, in seiner Abwesenheit nach Vercingetorix zu sehen. Vercingetorix war ein großer schwarzer Kater, der sich im Turm eingenistet hatte. Er hatte eines Abends vor der Tür gesessen, eine tote Maus als Geschenk auf der Schwelle. Micha hatte das so verstanden, dass sich der Besucher damit den Eintritt erkaufen wollte. Mehr aus Spass war er darauf eingegangen, ohne dass es später gelungen wäre, den neuen Bewohner wieder loszuwerden. Er ging zwar tagsüber seiner eigenen Wege, kehrte aber abends regelmäßig zum Turm zurück, wobei er immer etwas von der Jagd mitbrachte. Micha hatte am Anfang den Versuch gemacht, das Tier auszusperren. Dann miaute und kratzte es aber solange an der Tür, bis er weich wurde und es wieder einließ. Inzwischen kam der Kater schon selbst durch einen offenen Lüftungsschlitz herein, der über die Gartenmauer zu erreichen war.
Das Zusammenleben mit Vercingetorix verlief harmonisch. Micha erklärte zwar, dass er ihn nur zu Studienzwecken bei sich dulde. In Wirklichkeit aber hatte er den Kater inzwischen so ins Herz geschlossen, dass er nicht mehr wusste, wie er vorher ohne ihn ausgekommen war. In ihm hatte er einen Zuhörer, der auch bei schwierigen Darlegungen nicht die Geduld verlor. Was die Geschenke anging, hatte man sich zur beiderseitigen Zufriedenheit dahin geeinigt, dass der Junge den guten Willen für die Tat nahm und Vercingetorix seine Beute selber fraß.
Max war nicht umhingekommen, nach dem Tier zu sehen, obwohl ihm der schwarze Geselle unheimlich war. Mit seinem dunklen Fell und den gelb-roten Augen sah er aus, als habe ein böser Geist Gestalt angenommen. Vercingetorix schien in punkto Zuneigung genauso zu empfinden. Er hatte gar nicht erst den Versuch gemacht, sich mit dem Besucher anzufreunden, sondern ihn mit Nichtachtung gestraft. Es war vielleicht so was wie Eifersucht, das das Tier veranlasste, sich zu entfernen, sobald der Junge aufkreuzte.
Jetzt war Max alarmiert, als er sah, dass das Licht im Turm brannte. Micha hatte es bei seiner Abreise sicherlich ausgemacht, da er mit der selbst erzeugten Energie sparsam umging. Jemand aus dem Hof konnte es nicht sein. Die Bestmanns waren mit Mark ebenfalls unterwegs. Und das Gesinde betrat den Turm nicht. Schon wegen der Gefahren, die dort lauerten ... Also waren es Fremde! Vermutlich Leute aus der Bande, denen sie auf der Spur waren. Man hatte durch die Polizei von Michas Rolle bei der gescheiterten Übergabe der Schmuggelware erfahren und wollte sich jetzt revanchieren.
Der Junge sah nach dem Schlüssel. Er lag nicht, wie verabredet, unter dem Blumenkasten. Offenbar hatte man sich damit Einlass verschafft. Jetzt war die Tür von innen abgeschlossen, wie er feststellte. Langsam wurde es draußen dunkel. Während Max noch unschlüssig vor dem Turm stand und überlegte, was er unternehmen sollte, strich etwas Weiches, Warmes um seine Beine und schnurrte. Vercingetorix hatte seine Beute auf der Türschwelle abgelegt, scheute aber offenbar davor zurück, das Innere aufzusuchen. Wahrscheinlich hatte er festgestellt, dass sich dort Unbekannte aufhielten. In dieser Situation hielt er den Jungen wohl für das geringere Übel.
Max bückte sich und nahm den Kater auf den Arm, was der sich hoheitsvoll gefallen ließ. »Du magst sie nicht?«, flüsterte er und kraulte dem Tier den Kopf. »Hast du eine Idee, wie wir sie vertreiben können?« Der Kater schwieg. Was sollte die Frage auch? Eine Antwort war von ihm nicht zu erwarten. Max ließ ihn wieder auf die Erde gleiten.
Plötzlich ertönte neben ihm ein fürchterliches Jaulen, als schriee ein aufgespießter Waldgeist in Todesnot. Als Max erschrocken zu Boden schaute, sah er Vercingetorix stolz und erwartungsvoll zu ihm emporblicken. »Aha! Du willst ihnen Angst machen«, flüsterte Max. »Das könnte klappen! Vielleicht laufen sie dann von selbst davon. Die Bremer Stadtmusikanten hatten schließlich Erfolg damit.«
Er wusste auch, wie das zu bewerkstelligen war. Zunächst musste im Turm das Licht ausgehen. Das konnte Vercingetorix besorgen. Micha benutzte zur Steuerung der Beleuchtung eine Dimmerscheibe im Erdgeschoss, die auf Druckimpulse reagierte. Damit ließ sich die Helligkeit bis auf Null herunterregeln, wenn man den Druck lange genug ausübte. Das hatte der Kater bereits herausgefunden. Es machte ihm Spaß, sich auf die Sensorplatte zu setzen und mit dem Licht zu spielen, obwohl er das nicht durfte. Das konnte man sich zunutze machen.
Max nahm den Kater nochmals hoch und sagte: »Vercingetorix pass auf! Du gehst hinein und sorgst dafür, dass es dunkel wird!« Leider hatte das Tier nicht die geringste Lust, seinen bequemen Platz auf dem Arm wieder aufzugeben. Es gähnte demonstrativ, um zu zeigen, dass es sich nicht angesprochen fühlte. Der Junge erkannte, dass er eine Entscheidungshilfe geben musste. Er stieg über einen Komposter auf die Mauer hinauf und setzte den Kater in den schmalen Lüftungsschlitz, der diesem auch sonst als Einlass in den Turm diente. »Los!«, ermunterte er. »Spring hinein und mach es dunkel!« Vercingetorix versuchte, sich umzudrehen; aber Max hielt ihn fest. »Sei kein Spielverderber!», raunte er ihm zu. »Du wirst sehen: Es macht Spaß, wenn das Licht ausgeht. Dann kommen die Mäuse auf Touren!« Der Hinweis auf die Mäuse wirkte dann wohl doch. Vercingetorix gab nach und glitt, durch einen Schubs ermuntert, geräuschlos in das Innere.
Jetzt konnte man nur noch hoffen, dass der Kater seine Schuldigkeit tat. Die Erfolgschancen waren leider nicht groß. Max wusste, dass Katzen als frühere Wildgeschöpfe eigenwillig sind. Hoffentlich hatte der Hinweis auf das Mäusejagen die natürlichen Jagdinstinkte geweckt.
Eine Weile geschah gar nichts. Dann begann das Licht abzunehmen, bis der Turm in Dunkelheit versank. »Braver Vercingetorix!«, flüsterte Max begeistert. Man konnte sich also auf ihn verlassen! Aber der Beifall kam zu früh. Denn es wurde langsam wieder heller, bis das Innere des Turmes im lichten Glanz erstrahlte. Der Junge verstand, was sich da ereignete. Der Impuls auf der Sensorscheibe brachte die Glühkörper wieder zum Leuchten, wenn er nicht abgebrochen wurde. Als es zum zweiten Male dunkel wurde, befahl Max in Gedanken: »Jetzt runter von der Scheibe!« Aber das Tier hatte seine eigene Vorstellung davon, wie das Spiel weitergehen sollte. Es blieb auf dem Sensor sitzen und ließ das Licht wieder heller werden.
Max erkannte, dass er seinen Plan ändern musste. Der ständige Wechsel vom Hell nach Dunkel würde wie Geisterspuk erscheinen, wenn man es richtig anfing. Er wusste auch, was zu tun war. Auf der Tonne mit dem Wunderwasser lag eine Flüstertüte. Micha brauchte sie zum ›Energetisieren‹. Max hatte einmal zusehen dürfen. Sein Freund hatte Tonleitern in das Wasser hineingesungen, was Geräusche erzeugt hatte, die nicht von dieser Welt zu sein schienen. Etwas Ähnliches brauchte er hier. Er hoffte, dass die Akustik des Turms die Töne genauso verzerren würde.
Der Junge holte das Sprachrohr und steckte es in den Lüftungsschlitz des Turms. Dann begann er mit der Geistermusik, anfangs noch zaghaft, dann in der Lautstärke steigernd, bis die Töne donnernd durch den Raum schallten. Von den Wänden hin und her geworfen, gebrochen und verstärkt, stiegen sie erst hinauf, wo sie wie ein Musikgewitter schaurig niederbrachen. Dabei kam Max auf den Einfall, die auf- und absteigenden Tonfolgen dem Auf- und Abschwellen des Lichtes anzupassen, was den Eindruck erweckte, als werde dies vom Klang bewegt, und das Ganze noch Furcht erregender machte.
Gerade hatte erneut Finsternis eingesetzt. So war es richtig! Jetzt galt es dafür so sorgen, dass es im Turm dunkel blieb. Das Tier musste die Sensorplatte verlassen. Max füllte seine Lungen bis oben hin mit Luft und intonierte einen langgezogenen herausfordernden Kampfschrei, wie er ihn vorhin von dem Kater gehört hatte. Das hatte die beabsichtigte Wirkung. Vercingetorix konnte nicht umhin, sich dem vermeintlichen Nebenbuhler zu stellen. Er gab seinen Standort frei, auf dem er allzu lange ausgeharrt hatte. Der Turm blieb in rabenschwarze Finsternis gehüllt.
»A h a a h u i h!«, »A h a a h u i h!«, »A h a a h u i h!«, schallte der Kampfruf aus dem Turm, worauf es unheilvoll »U h u u h i i o!«, »U h u u h i i o!«, »U h u u h i i h o!« von draußen antwortete.
Das war dann doch zu viel für die Besetzer. Im Innern des Turms wurde Gepolter hörbar, Menschen eilten in wilder Hast die Treppe herunter, stießen sich im Dunklen und suchten nach dem Ausgang. Das Ganze wurde begleitet von Rufen und Flüchen der Flüchtenden, die in Panik geraten waren. Die Außentür wurde aufgerissen und zwei Gestalten stürzten heraus, von einem kratzenden und beißenden Ungeheuer verfolgt. Sie flüchteten durch den Garten und verschwanden durch den Torweg. Etwas später war das Anspringen eines Wagens zu hören, der eilig davonfuhr.
Max, der den lärmenden Auszug von der Mauer aus miterlebt hatte, war sich bewusst, dass die Operation ›Sauberer Turm‹ ein voller Erfolg geworden war. Die Allianz zwischen Mensch und Tier hatte prächtig funktioniert.
Allerdings bedauerte er dann doch, dass es so finster gewesen war. So hatte er nur zwei dunkle Gestalten vorbeieilen sehen. Einen großen breitschultrigen Mann und eine kleinere schlanke Frau. Nach ihrer Wendigkeit handelte es sich um jüngere Leute. Wieso musste Max in diesem Zusammenhang an Zigahn und Ivy denken? Sollte er sich in dem Mädchen derart getäuscht haben? Vielleicht war sie beim Angeln nur deshalb so zugeknöpft gewesen, weil sie auf der anderen Seite stand.
»Du hast deinem Namen alle Ehre gemacht«, lobte der Junge, als Vercingetorix schließlich erschöpft von seiner Verfolgung zurückkam. Die beiden nahmen als Sieger vom Turm Besitz und veranstalteten ein Freudenmahl. Verxi, wie Max den schwarzen Kämpfer liebevoll nannte, verzehrte die mitgebrachte Maus und Max Michas Vorräte.
Die Freude sollte aber nicht ungetrübt bleiben. Als Max sich später im Turm umsah, machte er eine bestürzende Entdeckung: Die Brosche aus der Höhle sowie der Zettel mit dem Hilferuf fehlten. Die Holzkassette, in der sie verwahrt waren, war leer.
ENDE DER LESEPROBE