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Die Trickdiebe von Bad Ischl - Max und Micha, die Junior-Detektive
Einführung: Bei einem nächtlichen Abenteuer lernt der 13-jährige Max den gleichaltrigen Micha kennen, der wegen seiner besonderen Fähigkeiten scherzhaft »Junior-Sherlock von St. Wolfgang« genannt wird. Max bekommt bald Gelegenheit, seinen neuen Freund in Aktion zu erleben. Am nächsten Tag wird Bad Ischl von Trickdieben heimgesucht und Micha folgt Spuren, die nur er sehen kann. Dabei scheint auch die unerbetene Unterstützung von Maxens Schwestern Lotte und Karo mehr zu schaden als zu nützen.
LESEPROBE: WIE ALLES BEGANN!
Da hat es mich krass erwischt! Ich bin ehrlich voll der Pechvogel und kann froh sein, wenn es nicht noch schlimmer kommt!
Max von Denker lag in der Dämmerung der hereinbrechenden Nacht in einem Schlammloch, das starke Regenfälle am Bachufer hinterlassen hatten. Schweißnass, ausgepumpt und verzweifelt war er nur noch ein Häufchen Elend, völlig am Boden zerstört. Er fühlte, dass er allein aus dem klebrigen Brei nicht mehr aufstehen konnte. Und wusste nicht einmal, ob er das überhaupt noch wollte. Wie war es möglich, dass er in so kurzer Zeit einen solchen Albtraum erleben musste?
Es war noch keine Stunde her, dass er mit seinen Eltern und den jüngeren Schwestern Lotte und Karo in St. Wolfgang angekommen war. Die Anfahrt aus Hannover hatte sich über den ganzen Tag erstreckt, sodass alle froh waren, endlich am Ziel zu sein. Im Landhaus am See zu Appesbach, einem alten Herrenhaus, hatten sie ein ansprechendes Quartier gefunden. Hier hatte der Herzog von Windsor zwei Monate gewohnt, als er wegen seiner Heirat mit der Amerikanerin Wallis Simpson auf den Thron des englischen Königs verzichten musste.
Nach der Ankunft beschäftigten sich die Eltern mit dem Auspacken, während die Schwestern die Treppen im Hotel rauf und runter liefen und ›Geheimgänge‹ entdeckten. Max aber wollte das schwindende Tageslicht ausnutzen, um sich draußen umzusehen.
»Bleib lieber hier«, rief die Mutter noch hinter ihm her. »Es wird bald dunkel und der Regen hat sicherlich Schlamm und Geröll herabgespült.« Als Lehrerin neigte sie dazu, überall Gefahren zu sehen.
»Ach, lass ihn doch«, mischte sich der Vater ein. Er war Rechtsanwalt und - es traf sich gut - ein unverbesserlicher Optimist. »Er will wissen, wo wir gelandet sind. Als Junge war ich auch nicht anders.«
Max tat so, als wenn er die Mahnung nicht mehr gehört hätte. Nach dem langen Stillsitzen im Auto musste er sich einfach bewegen. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen. Die Wolken waren aufgerissen und gaben Fetzen blauen Himmels frei, durch die die Abendsonne aufmunternd ihre Strahlen schickte.
Der junge Abenteurer - der volle Name lautete Maximilian - war dreizehn Jahre alt, hoch aufgeschossen und mit einem blonden Lockenschopf gesegnet, um dessen Ordnung er täglich einen vergeblichen Kampf führte. Er war das, was man in der Jugendsprache einen ›Sympathiko‹ nennt, und kam nicht nur bei den Mädchen gut an. Er bevorzugte ›Action full‹ und ›powerte‹ oft durch die Gegend, ohne groß über die Risiken nachzudenken. Dadurch geriet er nicht selten in Schwierigkeiten. In der Schule rief man ihn deshalb – in Verhunzung seines Nachnamens - scherzhaft ›von Spät-Denker‹. Nur seine Feinde hätten ihn aber wegen dieser Eigenschaften als ›Django‹ bezeichnet: Es fehlte ihm nämlich die geistige Beschränktheit, die den falschen Heldenmut ins Lächerliche kehrt.
Nachdem er einen Blick auf den See geworfen hatte, an dessen Ufer das Hotel am Hang liegt, ging er auf die Durchfahrtsstraße hinaus und wandte sich nach rechts. Im Vorbeifahren hatte er den Hinweis auf ein Tenniszentrum entdeckt, das er sich ansehen wollte. Vielleicht konnte er dort während seines Aufenthalts in St. Wolfgang ein paar Stunden nehmen.
Nach kurzer Zeit erreichte er das Schild und folgte dem Richtungspfeil in das Tal des Appesbachs hinein, das links in den Bergrücken einschnitt. Die einspurige Fahrstraße führte, von Bäumen und Büschen eingerahmt, am Wasser entlang. Zu beiden Seiten tauchten im Abenddunst in größeren Abständen Bauernhöfe auf, zwischen denen sich verwaiste Viehweiden den Berghang hinaufzogen.
Max schritt zügig aus. Die Gehöfte hatte er bereits hinter sich gelassen. Die Talwände traten näher heran und verschluckten die letzten Sonnenstrahlen, sodass es auf der Straße schon finster wurde. Die Gegend wirkte wie ausgestorben. Auch die Tennishalle war noch nicht in Sicht.
Dem Jungen wurde es nun doch ein wenig mulmig zu Mute. Immer cool bleiben, ermahnte er sich. Sein Schritt verzögerte sich aber. Zuletzt blieb er ganz stehen. Das Ziel war wohl doch ein ganzes Stück weiter, als er gedacht hatte. In der hereinbrechenden Dunkelheit würde er es vermutlich gar nicht finden. Zudem schien es nicht ratsam, seine Eltern gleich nach der Ankunft zu ängstigen. Es war daher besser umzukehren.
Max wollte den Entschluss gerade in die Tat umsetzen, als er auf einmal fühlte, dass er nicht mehr allein war. Zwei feindliche Augen durchbohrten ihn von hinten. Er wandte sich um und erstarrte: Vor ihm - nicht weiter als fünf Meter entfernt - hatte sich ein großes graues Tier aufgebaut, das ihm bis zur Hüfte reichte. Mit langer spitzer Schnauze, gestrecktem Körper und buschigem Schweif ähnelte es einem Schäferhund, wirkte aber entschieden wilder. Etwas Bedrohliches ging von ihm aus. Die Ohren waren aufgestellt, die gelben Augen funkelten tückisch und das Maul entblößte ein messerscharfes Gebiss, während der Schwanz einschüchternd wie eine Lanze aufragte. Es schien einem Horrorfilm entsprungen.
Max lief es siedend heiß den Rücken hinunter. War es möglich oder spielte ihm seine Fantasie einen Streich? In Westeuropa waren diese Untiere an sich ausgerottet. Man konnte sie nur noch aus sicherer Entfernung im Zoo bestaunen. Und das war gut so: Denn sie waren gefährlich und schreckten sogar vor einem Angriff auf Menschen nicht zurück.
Je länger Max den Wegelagerer betrachtete, umso sicherer wurde er: Er sah nicht nur so aus. Er war ein solches blutrünstiges Raubtier: Auf der einsamen Straße vor ihm stand ein … echter Grauwolf!
Die Alarmglocke schrillte: Ein sofortiger Rückzug schien angesagt. Er durfte aber nicht wie eine Flucht aussehen. Noch war sich der Graue anscheinend seiner Sache nicht sicher und hielt einen Achtungsabstand ein. Scheu vor dem Menschen und Hunger kämpften wohl miteinander. Jedes Anzeichen von Schwäche, das war klar, würde ihn jedoch zu einem Angriff ermutigen.
Max wendete und setzte seinen Weg bergaufwärts in der ursprünglich eingeschlagenen Richtung fort, die er an sich hatte wechseln wollen. Er zwang sich dazu, langsam zu gehen und eine Selbstsicherheit vorzutäuschen, die keineswegs vorhanden war. Wenn er Glück hatte, würde sich das Tier beeindrucken lassen. Und glauben, dass er keine geeignete Beute darstellte. Es würde stehen bleiben und zulassen, dass sich die Entfernung mit jedem Schritt vergrößerte, bis der Mensch in der Abenddämmerung verschwunden war.
Aber Pustekuchen! Das Raubtier hatte die Furcht in den Augen des Jungen gesehen. Es gab einen heulenden Laut von sich und setzte sich in Bewegung. Max beschleunigte seinen Schritt, ohne dass der Abstand dadurch größer wurde. Ein weiteres Anziehen des Tempos blieb ebenso wirkungslos, weil der Verfolger gleichfalls schneller lief. Schließlich musste Max feststellen, dass er in Laufschritt verfallen war, was er doch gerade hatte vermeiden wollen. Aber der angeborene Fluchtinstinkt war mächtiger als die Stimme der Vernunft.
Während er die Straße emporkeuchte, beschäftigte sich sein Verstand damit, wie der Wolf nach Österreich geraten war. Wenn er nicht aus einem Gehege ausgebrochen war, musste er aus Ungarn oder Tschechien eingewandert sein. Auf der Suche nach neuem Lebensraum konnten Einzelgänger, wie er gelesen hatte, ohne Weiteres tausend Kilometer und mehr zurücklegen. Jetzt hatte sich einer nach Westen gewagt. Er war ausgehungert und suchte nach Beute. Und die - zum Teufel, welches Pech! - glaubte er nun gefunden zu haben.
Von Zeit zu Zeit wandte Max den Kopf, um zu sehen, ob er den Verfolger abgeschüttelt hatte. Das war aber nicht der Fall, wie er mit zunehmender Angst feststellen musste. Allerdings verzichtete das Tier darauf, näher heranzukommen, was ihm sicherlich möglich gewesen wäre. Warum wartete es noch und griff nicht an?
Plötzlich verstand Max: Mein Gott! Er sollte so lange gehetzt werden, bis er erschöpft zusammenbrach. Er erinnerte sich daran, dass Wölfe eben die Taktik anwandten, wenn sie eine größere Beute jagten. Das durfte ihm nicht passieren: Er hatte seine Kräfte einzuteilen, um lange genug durchzuhalten, bis er von irgendwo Hilfe erhielt. Die Tennishalle konnte nicht mehr weit sein, und wo sie stand, waren vermutlich auch Häuser und Menschen, die Rettung versprachen.
Aber halt! Da stimmte etwas nicht! Falls es sich so verhielt, war der Verfolger sicherlich darüber unterrichtet und hatte vorgesorgt. Auf einmal wusste Max, was Sache war: Hier wurde arbeitsteilig gejagt, wie es bei Wölfen üblich war. Vor der rettenden Siedlung wartete das Rudel, auf das er zugetrieben wurde. Also, Achtung: Warnstufe rot: Er durfte nicht blind in die Falle hineinlaufen!
Zum Glück führte rechts ein schmaler Sandweg in ein Nebental hinein. Max schaltete sofort: Das war die Lösung! Das Tier würde von ihm ablassen, wenn der hinterhältige Plan vereitelt wurde. Außerdem konnte er so vielleicht zur Fahrstraße am See zurückgelangen, auf der er nichts mehr zu befürchten hatte. Er überlegte deshalb nicht lange und bog ein.
Aber, verdammt! Er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Der Wolf alarmierte seine Artgenossen mit einem langgezogenem Heulen und folgte dann in das Nebental hinein. Es gab allerdings nach wie vor kein Anzeichen dafür, dass er jetzt angreifen wollte. Vermutlich wartete er darauf, dass das Rudel einen neuen Hinterhalt vorbereitete.
Max musste sich eingestehen, dass sich seine Lage nicht verbessert hatte. Es stellte sich jetzt sogar als Fehler heraus, von der Straße auf einen einsamen Wanderweg ausgewichen zu sein, der durch den Wald den Berg hinaufführte. Damit hatten sich die Aussichten, auf Menschen zu stoßen, erheblich vermindert. Es gab auch keine Abzweigung nach rechts zurück in den Ort, auf die er gehofft hatte.
Er verlor die Zuversicht, die ihn kurze Zeit beflügelt hatte. Langsam wurde er panisch: Die Kleidung klebte an seinem Körper, die Lungen schmerzten und seine Beine wurden unsicher. Er fing zu straucheln an und wäre beinahe gestürzt. Wie lange konnte er die wilde Hetzjagd bergauf noch durchhalten? Hatte er denn überhaupt eine Chance?
Max war so mit dem steilen Anstieg und dem Verfolger hinter ihm beschäftigt, dass er nicht rechtzeitig bemerkte, was sich vor ihm tat. Er schreckte erst auf, als große Tiergestalten auf ihn zustürmten. Menno, jetzt haben sie mich doch eingekreist!, dachte er verzweifelt. Und ließ sich blitzschnell die Böschung hinunterfallen, wo er in dem Morast neben dem Bach landete.
Er war auf das Schlimmste gefasst. Als er aber nach oben schaute, bemerkte er erleichtert, dass die Angreifer nicht nachsetzten. Er sah braun-weiß gefleckte, massige Körper hinten in der Dunkelheit verschwinden. Jetzt erkannte er auch, mit wem er es zu tun bekommen hatte: Es war eine durchgegangene Rinderherde, die wie die wilde Jagd vorbeigestürmt war.
Der Junge seufzte. Buh, wutsch und weg: Das war knapp gewesen! Aber das Ganze hatte auch sein Gutes: Von dem Verfolger war nichts mehr zu sehen: Er hatte vor der Übermacht die Flucht ergriffen.
Während Max noch in seinem nassen Ruheplatz verharrte, von dem er niemals mehr aufstehen wollte, vernahm er eine spöttische Stimme über sich: »Mei liawa Schiawa! Was machst ’n da unten im Gatsch? Willst’n a Schlammbad nehma oder was?«
Max wandte vorsichtig den Kopf. Oben stand ein Junge mit kariertem Hemd und Lederhose, der die Sache anscheinend äußerst lustig fand. Er war wohl im gleichen Alter, aber einen Kopf kleiner und von schlanker sehniger Gestalt. Sein gebräuntes schmales Gesicht wurde von langen dunklen Haaren umgeben, die ihm ein mädchenhaftes Aussehen gaben. Der Mund hatte sich zu einem schadenfrohen Grinsen verzogen.
»Gehört die wilde Meute dir?«, rief Max böse. »Du hast wohl null Ahnung von Tierhaltung?«
»Jamei, sie sind halt durchganga«, erwiderte der Bursche entschuldigend. »Des kommt schon mal vor. - Is’ dir was passiert?«
Max schüttelte den Kopf. »Ich lebe noch!«, sagte er vorwurfsvoll. »Aber das liegt nicht an dir.« Er versuchte sich aufzurichten, musste jedoch feststellen, dass er das aus eigener Kraft nicht vermochte. Es war so, wie er befürchtet hatte: Sein Körper steckte tief im braunen Brei, der seinen Sturz gemildert hatte, ihn jetzt aber nicht mehr freigeben wollte. »Vielleicht bemühst du dich herunter und hilfst mir heraus. Und sprich so, dass man dich verstehen kann.«
Der Junge war schon herabgeklettert. »Ich bin der Micha!«, erklärte er. »Beruhige dich; ich kann auch Hochdeutsch. Du solltest das Missgeschick von der guten Seite nehmen: Wenn du am Boden liegst, kannst du nicht mehr in den Dreck fallen.«
»Ach ja«, erwiderte Max wütend, während er sich hinaushelfen ließ. »Ihr handelt wohl nach dem Spruch: ›Klebt der Fremde an der Mauer, war der Stier mal eben sauer.‹ … O weh! Wie sehe ich denn aus?«, klagte er dann, als er sich den Schaden besah. Er war von oben bis unten mit Schlamm bedeckt, der an ihm heruntertropfte. »Meine Ausgehklamotten sind ruiniert. Und der Urlaub ist gestorben … Was kann ich in diesem Aufzug hier noch machen?!«
»Wie wäre es mit Schlammcatchen?«, spaßte Micha.«
»Vorsichtig!«, drohte Max. »Ich explodiere gleich.«
»Bleib cool!«, begütigte der Junge. »Das kriegen wir schon geregelt: Am besten du steigst zu uns herauf und wir bringen das in Ordnung.«
Max zögerte. »Man wird Alarm schlagen, wenn ich nicht bald wieder im Hotel auftauche. Wir sind gerade erst angekommen. Ich bin lediglich zu einer Kurzinspektion unterwegs.«
»Ja, unser Schlamm ist weltbekannt!«, witzelte Micha. »Kein Problem«, beruhigte er dann, als er sah, dass sein Spaß nicht ankam. »Wir können ja anrufen.«
»Ach, ihr habt schon Telefon hier oben?« Max war immer noch zornig. »Ich glaubte, ihr verständigt euch noch mit Rauchzeichen.«
»Die gibt es nur in der Räucherkammer … Dafür kann man das Ergebnis aber nachher auch essen.«
Max ließ sich schließlich überreden. Wenn auch wenig Hoffnung bestand, dass Micha sein Versprechen wahrmachen konnte, so lohnte sich ein Versuch auf alle Fälle. Die Vorwürfe, die er von seinen Eltern zu hören bekam, wenn er ihnen in dem Zustand vor Augen trat, vermochte er sich gut vorzustellen. Sein Sündenkonto war eh schon randvoll.
Die Jungen folgten den Rindern ein Stück bergab bis zu einer Abzweigung, an der ein Weg nach links auf eine bewaldete Höhe hinaufführte. Hier bogen sie ein. Es ging steil empor, sodass Max ordentlich ins Schwitzen kam, während er tropfend eine Schlammspur zurückließ. Ein paar Mal blieb er stehen und tat, als ob er die Aussicht bewunderte. In Wirklichkeit aber brauchte er eine Atempause.
Endlich machte der Wald einer Wiese Platz. In einer Mulde jenseits der Kuppe lag das Gut, das wie eine Wehrburg wirkte. Massive Steingebäude gruppierten sich schützend um einen Innenhof und gaben einen Zugang nur durch ein großes Tor frei. Auf der Hinterfront schloss sich ein ummauerter Garten an, an dessen Rückseite ein Turm stand. Dahinter verlief eine Schneise talabwärts durch den Wald. Die Lichter der Ortschaften Schwarzenbach und Rußbach schimmerten durch die rasch zunehmende Dunkelheit herauf.
»Echt stark!« Max war begeistert. »Aber, ist es nicht etwas einsam hier?«
Micha schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich: Es führt ein Traktorenweg zu uns herauf, auf dem sich alles herbeischaffen lässt. Und die nächsten Bauernhöfe liegen nur einige Kilometer entfernt. Im Winter kommt es allerdings vor, dass wir für einige Zeit von der Außenwelt abgeschnitten sind. Dafür haben wir aber vorgesorgt.«
Sie hatten das Gut schon fast erreicht, als auf einem ausgebauten Weg im schnellen Tempo Rinder angetrabt kamen. »Da sind sie ja schon«, rief Micha erfreut. »Wir haben wohl zu sehr getrödelt. Und ...«
Er verstummte, weil sein Begleiter ihn heftig am Arm fasste. Hinter dem Trupp schoss eine furchterregende Gestalt hervor. Max erkannte sie sofort. Es war der Grauwolf, vor dem er geflüchtet war.
Der Junge stand vor Schreck wie gelähmt, während seine Gedanken auf Hochtouren arbeiteten. Verwünscht! Also hatte die ausgehungerte Bestie ihn doch gefunden. Es war klar, dass sie sich ihre Beute nicht so leicht entgehen lassen wollte. Die Zeit des Abwartens und der Verfolgung war nun vorbei: Sie hatte erkannt, dass das Opfer zu entkommen drohte, und versuchte, dies mit allen Mitteln zu verhindern.
Was nur, in Teufels Namen, sollte er tun? Von dem schmächtigen Begleiter neben ihm durfte er keine Hilfe erwarten. Der würde froh sein, sein eigenes Leben zu retten. Die einzige Möglichkeit blieb die Flucht in das Gehöft hinein. Bis zum Tor waren es nur wenige Meter. Vielleicht konnte er es noch schaffen.
Aber dann, Gott sei uns gnädig, versuchte er es nicht einmal. Er war wie erstarrt und vermochte kein Glied zu bewegen. Gedanken und Bilder schossen ihm sekundenschnell durch den Kopf und Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Er war immer stolz darauf gewesen, dass ihn nichts erschrecken konnte. Und jetzt passierte es: Ausgerechnet in einem Moment, in dem Mut und Tatkraft gefragt waren, musste er hilflos um sein Leben zittern.
Als der Wolf nahe genug herangekommen war, schnellte er mit einem weiten Sprung auf die Jungen zu. Max schloss die Augen, zu nichts anderem fähig, als das Unvermeidliche hinzunehmen. Der erwartete Aufprall, der ihn zu Boden warf und das Ende bedeutete, blieb aber aus. Stattdessen spürte er eine heftige Bewegung neben sich und vernahm seltsame Töne, die das furchtbare Tier von sich gab. Als er die Augen öffnete, bemerkte er, wie Micha mit der grauen Gestalt rang, die ihn angesprungen hatte und niederzuwerfen versuchte. Max war zu überrascht, um an Hilfe zu denken, zu der er allerdings eh nicht in der Lage gewesen wäre. Er stand immer noch wie versteinert da.
Es sah aber auch nicht so aus, als wenn Micha Beistand benötigte. Er wusste genau, was zu tun war: Den Kopf zurückgewandt, um seine Kehle vor den Zähnen zu schützen, hielt er den Angreifer mit beiden Armen fest umklammert und presste ihn an sich. Die gequetschten Laute zeigten, dass dem Tier die Luft auszugehen drohte. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis es besiegt war. Max hatte seinen Begleiter völlig unterschätzt.
Da wandte Micha den Kopf. »Das ist Gandalf, der Graue«, stellte er voller Stolz vor, während er lachend abzuwehren versuchte, dass ihn das große Tier mit der Zunge abschleckte. »Wir haben ihn nach dem Zauberer aus dem ›Herrn der Ringe‹ benannt, weil er es - genau wie der - versteht, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen. Er hat die Rinder abgefangen und auf der Zufahrt heraufgetrieben. Dabei hat er uns noch überrundet, obwohl die Straße viel länger ist. Und jetzt will er gelobt werden.«
»Aber - das ist ... das ist doch kein Hund, ... das ist ... ein richtiger Grauwolf«, stammelte Max fassungslos. »Den kann ... kann man nicht ... zum Tierhüten ...!«
»Gandalf schon«, unterbrach Micha. »Wir haben ihn als Welpen adoptiert. Er ist bei uns aufgewachsen und zahm wie ein Schoßhund.«
Max beruhigte sich nur langsam, »Wölfe sind doch berüchtigt wegen ihrer Wildheit und Scheu vor dem Menschen.«
»Pah! Alles eine Frage der Erziehung.« Micha lachte, während er die stürmische Annäherung seines wilden Freundes zu beenden versuchte. »Wir waren die Ersten, die er erblickte, als er nach zwölf Tagen die Augen öffnete. Deshalb hält er uns jetzt für seine Eltern.«
ENDE der Leseprobe!
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